XI. Tätigkeitsbericht des Landesbeauftragten für den Datenschutz Sachsen-Anhalt vom 01.04.2011- 31.03.2013
10.1.9 Langfristige Aufbewahrung von Patientenakten
Von einem Universitätsklinikum wurde die Frage aufgeworfen, ob man nicht die Akten stationärer Patienten über 30 Jahre nach der Behandlung hinaus aufbewahren dürfe. Die Unterlagen könnten der Forschung dienen. Dafür sprächen das Forschungsprivileg und die Wissenschaftsfreiheit. Das Vorhaben der Aktenaufbewahrung von bis zu 30 Jahren wird häufig mit dem Hinweis auf die Verjährungsvorschrift des § 199 BGB begründet.
Die Aufbewahrung von Patientenakten stellt eine Speicherung und damit eine Datenverarbeitung dar. Dies bedarf einer rechtlichen Grundlage in Gestalt der Einwilligung des Betroffenen bzw. einer gesetzlichen Regelung (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 DSG LSA i. V. m. § 4 Abs. 1 BDSG).
Eine allgemeine Vorschrift zur langfristigen Aufbewahrung von Akten stationärer Patienten ist nicht ersichtlich. Lediglich für bestimmte fachliche Bereiche wird in Spezialvorschriften eine Aufbewahrungszeit von Patientenunterlagen vorgegeben (z. B. Betäubungsmittelverschreibungsverordnung, Strahlenschutzverordnung, Röntgenverordnung usw.). Sonst gilt der Grundsatz, dass personenbezogene Informationen dann zu löschen sind, wenn sie für die Aufgabenerfüllung der speichernden Stelle nicht mehr erforderlich sind (§ 20 Abs. 2 Nr. 2 BDSG). Ausdrückliche informierte Einwilligungen dürften zumeist nicht vorliegen. Auch von einem mit dem Abschluss des Behandlungsvertrages erklärten allgemeinen Einverständnis des Patienten in eine Aufbewahrung seiner Unterlagen für einen derart langen Zeitraum jenseits spezifischer Notwendigkeiten kann nicht ausgegangen werden.
Der Hinweis auf eine rechtlich theoretische Möglichkeit der Haftung vermag nicht die Erforderlichkeit im datenschutzrechtlichen Sinn für den regelmäßigen Bedarf zur Abwicklung von Verwaltungsaufgaben zu begründen. Zweifellos besteht ein berechtigtes Interesse der Klinikverwaltung, Unterlagen für die Abwehr zu erwartender Schadenersatzansprüche aufzubewahren. Auf der anderen Seite sind auch die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Patienten zu berücksichtigen. Demgemäß dürfte es lediglich in Einzelfällen bzw. in Bezug auf bestimmte Erkrankungsarten (z. B. chronisch Kranke) anzunehmen sein, dass hier auch nach Jahrzehnten noch mit der Geltendmachung von Ansprüchen zu rechnen ist. Gegebenenfalls können auch einzelne komplizierte Behandlungsvorgänge mit äußerst hohem Schadenspotential in die Betrachtung einbezogen werden.
Die allgemeine Notwendigkeit einer dreißigjährigen Speicherung von Patientendaten wird jedoch auch in Fachkreisen zumeist nicht gesehen. So gibt es viele Einrichtungen, die schon aus Gründen kostenintensiver Speicherung und Aktenaufbewahrung die Vorgänge grundsätzlich nach zehn Jahren vernichten, soweit nicht im Einzelfall Ausnahmegründe vorliegen. Auch die Orientierungshilfe zu Krankenhausinformationssystemen (abrufbar auf der Homepage des Landesbeauftragten) gibt eine möglichst frühzeitige Löschung vor. Die Empfehlungen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Schweigepflicht verweisen zur Aufbewahrungsfrist auf eine individuelle realistische Einschätzung in medizinischer Sicht. Auch § 10 Abs. 3 der Musterberufsordnung der Ärztekammer Sachsen-Anhalt geht grundsätzlich von einer Aufbewahrungszeit von zehn Jahren aus, unter Berücksichtigung der berufsständischen Einschätzung der Erforderlichkeit der Dokumentation. Auch dürfte haftungsrechtlich Folgendes gelten: Braucht der Arzt oder Krankenhausträger die Krankenunterlagen nicht länger aufzubewahren, darf ihm wegen deren Vernichtung oder wegen eines Verlustes hieraus kein Nachteil mehr entstehen (Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 29. Januar 2003, Az.: 3 U 91/02, Versicherungsrecht 2005, 412). Soweit noch Bedenken bestehen, könnte die Problematik mit dem Haftpflichtversicherer erörtert werden.
Informationen über die Gesundheit von Patienten stellen sicher eine gesellschaftliche Ressource dar, die für die Forschung von Wert ist. Demgemäß gibt es auch vielfache internationale Diskussionen über das Verhältnis der Patientenrechte und wissenschaftlichen Verwendungszwecken. Zumeist wird auf die Notwendigkeit von Einwilligungen verwiesen, da es sich um sensible Informationen handele, die nach internationalen Grundsätzen geschützt sind.
In anderen Ländern gibt es teilweise spezielle gesetzliche Vorschriften, die die Nutzung von Daten zulassen, wenn das öffentliche Interesse an Forschungsvorhaben das schützenswerte Interesse der Patienten überwiegt. Eine derartige spezielle Rechtsgrundlage für die Datenverarbeitung bzw. -nutzung existiert in Sachsen-Anhalt nicht. Die hochschulrechtlichen Regelungen des Landes gewähren nur Unterstützung und Zusammenarbeit zwischen Klinikum und Forschern in konzeptioneller und organisatorischer Hinsicht. Eine Rechtsgrundlage zur Datenverarbeitung ist den Aufgaben und Strukturvorgaben nicht zu entnehmen. Auch die Regelung des Forschungsprivilegs nach § 28 Abs. 6 Nr. 4, Abs. 8 Satz 1 BDSG ist hier keine Rechtsgrundlage. Es wäre jeweils eine konkrete Abwägung im Einzelfall geboten. Die beabsichtigte pauschale Aufbewahrung hätte letztlich im Hinblick auf zunächst noch nicht bestimmte Forschungsprojekte eine Vorratsdatenspeicherung bedeutet. Auch das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vermittelte letztlich keine drittbezogenen Ansprüche. Daher musste von der angedachten langfristigen Speicherung abgeraten werden.