III. Tätigkeitsbericht des Landesbeauftragten für den Datenschutz Sachsen-Anhalt vom 01.04.1995 - 31.03.1997
21.13 Überprüfung der Staatsanwaltschaften
Im Berichtszeitraum hat der Landesbeauftragte seine bereits in den Vorjahren begonnenen schwerpunktmäßigen Überprüfungen der Staatsanwaltschaften fortgesetzt und abgeschlossen. Besonderes Augenmerk legte er dabei insbesondere auf die datenschutzgerechte Führung der Zentralen Namenskartei und der Ermittlungsakten, das Verfahren der Gewährung von Akteneinsicht, die Aufbewahrung von Beweismitteln nach Verfahrenseinstellungen sowie die technischen und organisatorischen Regelungen zur sicheren Aufbewahrung der personenbezogenen Daten.
Bei den überprüften Staatsanwaltschaften ist bereits das automatisierte Geschäftsstellenbearbeitungssystem SIJUS-Strafsachen zur automatischen Erfassung aller vorhandenen Ermittlungsakten eingeführt worden. Bei der Eingangserfassung im SIJUS-System werden die persönlichen Daten der Beschuldigten und, bei qualifizierten Sachen mit unbekannten Tätern sowie bei Tötungs- und Selbsttötungsdelikten, die Daten der Opfer gespeichert, unabhängig vom Alter und der Schuldfähigkeit. Darüber hinaus enthält die Bildschirmmaske bei einer Staatsanwaltschaft zur Erfassung auch den Namen der Mutter des Betroffenen.
Sowohl in seinem I. (S. 131) als auch in seinem II. Tätigkeitsbericht (S. 121) hat der Landesbeauftragte darauf hingewiesen, daß für den Einsatz des SIJUS-Verfahrens keine ausreichende Rechtsgrundlage besteht. In das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung der betroffenen natürlichen Personen darf aber nur durch oder aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden (Art. 6 Abs. 1 der Landesverfassung Sachsen-Anhalt, Art. 2 Abs. 1 i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG).
Die §§ 152, 160, 161 StPO erfüllen die verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Der von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingeräumte sog. „Übergangsbonus” kann auch nicht in Anspruch genommen werden, denn er erfaßt nur solche Verfahrensweisen, die 1983 im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bereits bestanden haben. Das SIJUS-Verfahren ist jedoch erst in den 90er Jahren neu geschaffen worden.
Das Ministerium der Justiz des Landes Sachsen-Anhalt hat es bisher abgelehnt, bis zur Schaffung einer bundesgesetzlichen Grundlage, die automatisierte Datenverarbeitung bei den Staatsanwaltschaften zumindest auf eine landesgesetzliche Grundlage zu stellen. Deshalb dürfen die Daten im SIJUS-System - hilfsweise auf § 10 DSG-LSA gestützt - nur insoweit und so lange gespeichert und verarbeitet werden, wie dies zur Aufgabenerledigung unbedingt erforderlich ist.
Gemessen an diesem Maßstab ist die bei einer Staatsanwaltschaft festgestellte Erhebung und Speicherung des Namens der Mutter bei Jugendlichen und Kindern nicht nur nicht erforderlich, sondern dazu fehlt jegliche Rechtsgrundlage. Es handelt sich um ein personenbezogenes Datum einer Person, die im Regelfall in keiner Weise Beteiligte an dem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren ist und deshalb in den personenbezogenen Datensammlungen der Staatsanwaltschaft nichts zu suchen hat.
Die zur Begründung herangezogene „Bequemlichkeitserfassung” für das Bundeszentralregister (BZR) trägt keinen rechtswidrigen Eingriff in Grundrechte. Das BZR muß sich eine eigene Rechtsgrundlage beim Bundesgesetzgeber beschaffen.Rechtlich bedenklich ist auch die festgestellte automatische Erstellung eines Einstellungsbescheides an den Geschädigten bei Strafsachen mit unbekannten Tätern; sie erfolgt bereits mit der Eingabe einer neuen Sache in das SIJUS-Verfahren und enthält alle verfahrens- und personenbezogenen Daten einschließlich einer maschinell erstellten Unterschrift des zuständigen Staatsanwaltes. Damit wird ein Rechtszustand schriftlich festgestellt, bevor der zuständige Staatsanwalt sich entschieden hat, ob er Anklage erheben, das Verfahren einstellen oder aber weitere Ermittlungen veranlassen will.
Ein derartiger „Bescheid auf Vorrat” mag zwar in Massenverfahren, wie bei Strafsachen mit unbekannten Tätern, den Reiz des Praktischen haben, ist aber nicht nur im Hinblick auf die genannten Vorschriften der StPO, sondern auch in bezug auf die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, nur richtige personenbezogene Daten zu verarbeiten (§ 16 Abs. 1 DSG-LSA), in hohem Maße problematisch, wenn nicht gar unzulässig. Die Vorratshaltung provoziert darüber hinaus die ungewollte fehlerhafte Absendung einer materiell-rechtlich nicht gesicherten Entscheidung und begünstigt die unbemerkte, mißbräuchliche Absendung des Einstellungsbescheides.Starke Rechtsbedenken waren auch gegen die bei einer Staatsanwaltschaft vorgefundenen, vorgefertigten amtlichen Einstellungsbescheide zu erheben, die schon bei der Polizei als Vordruck vorlagen und ausgefüllt mit dem Ermittlungsvorgang übersandt wurden. Der Vordruck wird mit der Eintragung des Aktenzeichens der Staatsanwaltschaft der Form nach ein fertiger Einstellungsbescheid, ohne daß der zuständige Staatsanwalt eine Entscheidung über den Aus- und/oder Fortgang des Verfahrens getroffen hat.
Damit wird die von § 16 DSG-LSA auch gewährleistete Sicherheit im Rechtsverkehr unterlaufen, weil damit aktenmäßig und ggf. durch unberechtigte Absendung eines inhaltlich nicht gedeckten Einstellungsbescheides falsche Daten verarbeitet werden. Gerade die moderne und automatisierte Datenverarbeitung bietet ausreichende Möglichkeiten einer praktikableren und rechtlich besseren Aufgabenlösung.Im Rahmen der stichprobenhaften Überprüfung der Ermittlungsakten wurde festgestellt, daß Unsicherheiten und Unklarheiten über die rechtlichen Grundlagen bei der Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht an nicht verfahrensbeteiligte Dritte bestehen.
Hierzu hat der Landesbeauftragte deutlich gemacht, daß es sich auch bei der Gewährung von Akteneinsicht um eine Übermittlung personenbezogener Daten und damit um einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung handelt. Die Regelungen in der StPO erlauben im laufenden Strafverfahren nur die Übermittlung an den Verteidiger des Beschuldigten (§ 147 StPO) oder den Rechtsanwalt des Verletzten (§ 406e StPO). Die Akteneinsicht durch Personen und Stellen, die am Strafverfahren nicht beteiligt sind, erfolgt deshalb zur Zeit, sowohl bei laufenden wie bei abgeschlossenen Strafverfahren, nur auf der Grundlage der Nrn. 183 bis 185 der RiStBV. Diese genügen aber als Verwaltungsvorschriften nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen Eingriff in das Grundrecht. Selbst wenn man mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von einem sogenannten „Übergangsbonus” ausgehen wollte, hat sich der Umfang der Gewährung von Akteneinsicht an nicht am Verfahren beteiligte Dritte, sowohl während als auch nach Abschluß des Strafverfahrens, in verfassungskonformer Auslegung auf das zu beschränken, was zum Schutze überragender Gemeinwohlinteressen unerläßlich ist. Dazu dürfte der beispielsweise bei der Überprüfung festgestellte, häufig von Krankenkassen und von Versicherungen verfolgte Zweck, aufgrund übergegangenen Rechts, das Bestehen zivilrechtlicher Ansprüche gegen den oder die Schädiger zu prüfen, nicht gehören. In jedem Falle ist das „Interesse” der Krankenkassen an der Gewährung von Akteneinsicht auf ein rechtliches Interesse am konkreten Sachverhalt und die Umstände, die beispielsweise zur Schädigung des jeweils Versicherten geführt haben, beschränkt.
Von daher ist die festgestellte Praxis der vollständigen Aktenübersendung sowie der ungeprüften Einsichtsgewährung in komplette Aktenvorgänge, datenschutzrechtlich zu beanstanden.Der Landesbeauftragte hat daher die Empfehlung ausgesprochen, die Akteneinsicht nicht umfassend für die gesamten Akten zu erteilen. Das kann im Einzelfall dazu führen, daß Akten zu trennen oder Auszüge zu erstellen sind. In Fällen, in denen dieses nicht möglich ist, sollte keine Akteneinsicht, sondern auf konkrete Darlegungen eines rechtlichen Interesses seitens der Anfragenden, lediglich eine Auskunft erteilt werden.
Daneben wurde bei der stichprobenweisen Überprüfung von Ermittlungsakten auch festgestellt, daß in den Taschen der Akten wiederholt Unterlagen aufbewahrt wurden, die zur Aufgabenerfüllung nicht mehr erforderlich waren. Dies gilt namentlich für aufgefundene handschriftliche Notizen des Gerichts, zusätzliche Ausfertigungen von Urteilen und Beschlüssen, Überstücke von Sachverständigen- und Behördengutachten sowie polizeiinterne Mitteilungen.
Die Aufbewahrung dieser Unterlagen ist mit der Verpflichtung der speichernden Stelle aus § 16 DSG-LSA, nur richtige und zur Aufgabenerfüllung erforderliche Daten zu speichern und zu verarbeiten, nicht in Übereinstimmung zu bringen.
Zusätzlich wurden auch Verstöße gegen die Aktenordnung festgestellt, weil, entgegen einer ausdrücklichen Bestimmung, Auszüge des Bundeszentralregisters nicht in einem Sonderheft aufbewahrt wurden.