V. Tätigkeitsbericht des Landesbeauftragten für den Datenschutz Sachsen-Anhalt vom 01.04.1999 - 31.03.2001
16. Rechtspflege
16.1 Strafverfahrensänderungsgesetz 1999
Mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz vom 02.08.2000 ist vorläufig eine jahrelange Diskussion darüber zu Ende gegangen, wie ein Ausgleich zwischen dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des einzelnen und dem Anspruch des Staates auf eine funktionstüchtige Strafrechtspflege aussehen soll.
Das Ergebnis ist ein Kompromiß zwischen den eher datenschutzfreundlichen Vorstellungen des Bundestages und den an einer möglichst einfachen Strafverfolgung interessierten Vorstellungen des Bundesrates. Dies ist deshalb bedauerlich, weil eine Vielzahl unbescholtener Bürger in Ermittlungsverfahren verwickelt werden und dabei erheblich und belastend in ihre Rechte eingegriffen wird.
Aus der Sicht des Landesbeauftragten und der seiner Kollegen und Kolleginnen im Bund und den übrigen Ländern begegnet das Strafverfahrensänderungsgesetz allerdings weiterhin datenschutzrechtlichen Bedenken (vgl. die Entschließung der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder vom 14./15. März 2000 (Anlage 13)).
In den §§ 131 bis 131c StPO wurden Fahndungsregeln, auch für die Öffentlichkeitsfahndung, endlich gesetzlich normiert. Diese Umsetzung einer alten datenschutzrechtlichen Forderung wird vom Landesbeauftragten grundsätzlich begrüßt. Allerdings bleibt das Ergebnis der gesetzlichen Normierung (vgl. IV. Tätigkeitsbericht, S. 89 f) in weiten Teilen datenschutzrechtlich bedenklich.
So regelt § 131 StPO die Fahndung zur Festnahme, § 131a StPO die Fahndung zur Aufenthaltsermittlung, § 131b StPO die Fahndung zur Identitätsfeststellung. Die Anordnungskompetenzen sind in § 131 StPO sowie in § 131c StPO für §§ 131a und b StPO geregelt. Dabei ist kritisch anzumerken, daß bei den Anordnungskompetenzen das Richterprivileg für die tief in die Persönlichkeitssphäre eingreifende Öffentlichkeitsfahndung erheblich aufgeweicht wird.
Nicht nur, daß die Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft bei Gefahr im Verzug die Fahndungsmittel der Strafverfolgung in Anspruch nehmen können (§ 131 Abs. 1 und 2, § 131c Abs. 1 Satz 2 StPO), sondern sie dürfen selbst auch Öffentlichkeitsfahndungen zum Zwecke der Aufenthaltsermittlung und Identitätsfeststellung veranlassen, wenn sonst „eine wesentliche Erschwernis der Ermittlungen” droht. Das ist nach Auffassung des Landesbeauftragten im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein zu unbestimmter Begriff, um den schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte ohne Richter zu rechtfertigen, denn erfahrungsgemäß sind davon auch immer wieder Unbeteiligte betroffen.
Diese Eingriffe betreffen nicht nur Beschuldigte, sondern auch Zeugen. So muß künftig jedermann damit rechnen, daß er als Zeuge Objekt einer groß angelegten Öffentlichkeitsfahndung wird.
Der faktische Wegfall des Richterprivilegs und damit die Unzulänglichkeit von Schutzregelungen wird in § 131c Abs. 2 StPO deutlich. Diese Vorschrift ermöglicht die Öffentlichkeitsfahndung ohne richterliche Bestätigung für längstens eine Woche.
Die erheblichen Gefahren dieser Regelung für das Persönlichkeitsrecht Betroffener werden insbesondere bei Fahndungen im Internet deutlich, weil die in diesem Medium veröffentlichten Fahndungen nicht nur „grenzenlos”, sondern vom Augenblick der Einstellung an faktisch nicht mehr rückholbar sind. Jeder Internetnutzer kann die Fahndungsmeldung herunterladen bzw. verändert wieder ins Netz einstellen. Die öffentliche Fahndung kann also bei neuen Erkenntnissen nicht mehr „zurückgeholt” werden. Ob ein Richter binnen einer Woche die Anordnung zur Öffentlichkeitsfahndung bestätigt oder ablehnt, spielt dann für die Praxis keine Rolle mehr.
Nicht zufriedenstellen können unter datenschutzrechtlichen Aspekten auch die Regelungen zur Akteneinsicht.
§ 474 Abs. 1 StPO ermöglicht nunmehr die Akteneinsicht zum Zweck der Rechtspflege. Der Landesbeauftragte ist weiterhin der Auffassung (vgl. IV. Tätigkeitsbericht, S. 88 ff), daß der Begriff „zum Zwecke der Rechtspflege” zu unbestimmt ist.
Bedenklich ist auch, daß künftig für die Akteneinsicht durch Private (§ 475 StPO) bereits ein berechtigtes Interesse ausreicht. Datenschutzfreundlicher wäre es gewesen, die Akteneinsicht nur bei einem rechtlichen Interesse zu gewähren.
Ein weiterer vom Landesbeauftragten bereits im Gesetzgebungsverfahren angesprochener Kritikpunkt ist der Aufbau von Dateien, in denen die Strafverfolgungsbehörden für Zwecke künftiger Strafverfahren bestimmte Daten speichern dürfen (§ 484 StPO). Da bereits ein zentrales staatsanwaltschaftliches Verfahrensregister aufgebaut wird, kann es zu von Verfassungs wegen verbotenen Doppelspeicherungen kommen. Hinzu kommen Speicherbefugnisse nach Landes- und Bundespolizeirecht, so daß zu erwarten ist, daß künftig Daten aus ein und demselben Verfahren mehrmals in verschiedenen Dateien gespeichert sein werden.