Entschließung der 60. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder vom 12./13. Oktober 2000 - Datenschutzrechtliche Konsequenzen aus der Entschlüsselung des menschlichen Genoms
Bei der Entschlüsselung des menschlichen Genoms sind in den letzten Monaten wohl entscheidende Durchbrüche gelungen. Für mehr als 20, oft vererbliche Krankheiten sind bereits Gentests zu erwerben, mit denen in Labors analysiert werden kann, ob eine Erkrankung vorliegt bzw. in welchem Umfang ein Erkrankungsrisiko besteht. Viele dieser Krankheiten sind allerdings bisher nicht heil- oder behandelbar.
Gentechnische Untersuchungen beim Menschen eröffnen den Zugang zu höchstpersönlichen und hochsensiblen Informationen in einem Maße, das die Intensität bisheriger personenbezogener Informationen ganz erheblich übersteigt. Durch den genetischen Einblick in den Kernbereich der Privatsphäre, etwa in Gesundheitsdisposition, Anlagen der Persönlichkeitsstruktur oder den voraussichtlichen Lebensverlauf, entsteht eine ganz neue Qualität des Wissens und des Offenlegens von persönlichsten Daten. Sowohl für die Betroffenen als auch für dritte Personen, insbesondere Familienangehörige, ist es von entscheidender Bedeutung, ob und inwieweit sie selbst und wer außer ihnen von den Ergebnissen Kenntnis bekommt. Davor steht die Frage, ob und aus welchen Anlässen überhaupt genetische Untersuchungen am Menschen vorgenommen werden dürfen. Zur informationellen Selbstbestimmung gehört auch das Recht auf Nichtwissen.
Die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder fordert, dass für die Zulässigkeit gentechnischer Untersuchungen beim Menschen und für den Umgang mit den dabei gewonnenen Informationen sehr schnell klare und verbindliche Prinzipien entwickelt werden, um auch die informationelle Selbstbestimmung in diesem Kernbereich zu sichern und zugleich eine „genetische Diskriminierung” bei der Gewinnung oder Verwendung genetischer Informationen, etwa im Arbeitsverhältnis oder beim Abschluss von Versicherungsverträgen zu verhindern. Auf der Grundlage dieser und in der „Entschließung über Genomanalyse und informationelle Selbstbestimmung” vom 26. Oktober 1989 formulierten Grundsätze wird die Konferenz an der Ausgestaltung mitwirken.
Die Datenschutzbeauftragten erinnern an ihre Grundsätze aus der Entschließung von 1989 bezüglich der Genomanalyse:
1. Die Genomanalyse darf grundsätzlich nur auf freiwilliger Basis nach umfassender Aufklärung der Betroffenen vorgenommen werden; ausgenommen sind Straf- und Abstammungsverfahren.
2. Die jederzeit widerrufliche Einwilligung muss sich auch auf die weitere Verwendung der gentechnischen Informationen erstrecken. Im Falle eines Widerrufs sind die gewonnen Informationen zu löschen oder an den Betroffenen herauszugeben.
3. Jede Genomanalyse muss zweckorientiert vorgenommen werden. Es ist diejenige genomanalytische Methode zu wählen, die keine oder die geringste Menge an Überschussinformationen bringt. Überschussinformationen sind unverzüglich zu vernichten.
4. Es ist zu prüfen, inwieweit genomanalytische Untersuchungsmethoden einer staatlichen Zulassung bedürfen. Für DNA-Sonden ist dies jedenfalls zu bejahen.
5. Die Genomanalyse im gerichtlichen Verfahren muss auf die reine Identitätsfeststellung beschränkt werden; es dürfen keine genomanalytischen Methoden angewandt werden, die Überschussinformationen zur Person liefern. Die Nutzung der Genomanalyse im Strafverfahren setzt eine normenklare gesetzliche Ermächtigung voraus. Präzise Regelungen müssen u.a. sicherstellen, dass genomanalytische Befunde einer strengen Zweckbindung unterworfen werden.
6. Im Arbeitsverhältnis sind die Anordnung von Genomanalysen oder die Verwendung ihrer Ergebnisse grundsätzlich zu verbieten. Ausnahmen bedürfen der gesetzlichen Regelung. Eine bloße Einwilligung des Arbeitnehmers ist wegen der faktischen Zwangssituation, der er im Arbeitsleben häufig unterliegt, nicht ausreichend.
7. Genomanalysen im Versicherungswesen sind grundsätzlich nicht erforderlich und mit dem Prinzip der Versicherungen, Risiken abzudecken und nicht auszuschließen, unvereinbar. Dies sollte durch eine Klarstellung im Versicherungsvertragsgesetz deutlich gemacht werden.
8. Im Rahmen der pränatalen Diagnostik dürfen nur Informationen über das Vorhandensein oder Fehlen von Erbanlagen erhoben werden, bei denen eine Schädigung heilbar ist oder die zu einer so schwerwiegenden Gesundheitsschädigung des Kindes führen würden, dass ein Schwangerschaftsabbruch straffrei bliebe.
Reihenuntersuchungen an Neugeborenen dürfen sich nur auf solche Erbkrankheiten erstrecken, die bei frühzeitiger Erkennung eines genetischen Defekts geheilt oder zumindest spürbar therapeutisch begleitet werden können.
Die Eltern müssen nach umfassender fachkundiger Beratung in voller Freiheit über die Anwendung genomanalytischer Methoden entscheiden können. Jegliche Beeinflussung, insbesondere jeder individuelle und gesellschaftliche Druck, muss vermieden werden.
Die informationelle Selbstbestimmung Dritter, zu der auch das Recht auf Nichtwissen gehört, muss berücksichtigt werden. Demnächst werden nicht nur – wie bisher – Gensequenzen aufgedeckt und verglichen, sondern auch die mit dem Genom verbundenen Wirkungszusammenhänge für die menschliche Gesundheit und für die Persönlichkeitsstruktur entschlüsselt werden können.