Entschließung der 62. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder vom 24. - 26. Oktober 2001 - Datenschutzrechtliche Anforderungen an den "Arzneimittelpass" (Medikamentenchipkarte)
Vor dem Hintergrund der Lipobay-Diskussion hat das Bundesministerium für Gesundheit die Einführung eines "Arzneimittelpasses" in Form einer (elektronisch nutzbaren) Medikamentenchipkarte befürwortet; auf der Karte sollen alle ärztlichen Verordnungen verzeichnet werden. Damit soll eine größere Transparenz der Arzneimittelverordnungen erreicht werden. Bisher ist nicht ansatzweise belegt, dass die bekannt gewordenen Gefahren für die Patientinnen und Patienten dadurch entstanden sind, dass verschiedene Ärztinnen und Ärzte ohne Kenntnis voneinander unverträgliche Medikamente verordnet hätten. Deswegen ist auch nicht ersichtlich, dass die aufgetretenen Probleme mit einem Arzneimittelpass hätten verhindert werden können.
Aus datenschutzrechtlicher Sicht bestehen erhebliche Bedenken gegen eine Medikamentenchipkarte als Pflichtkarte. Die Datenschutzbeauftragten begrüßen es daher ausdrücklich, dass der Gedanke einer Pflichtkarte fallen gelassen wurde. Die Patientinnen und Patienten würden sonst rechtlich oder faktisch gezwungen, die ihnen verordneten Medikamente und damit zumeist auch ihre Erkrankung bei jedem Arzt- und/oder Apothekenbesuch ohne ihren Willen zu offenbaren. Dies würde eine wesentliche Einschränkung des Arztgeheimnisses bewirken, das auch gegenüber anderen Ärztinnen und Ärzten gilt. Zudem würde sich dadurch das Vertrauensverhältnis, das für die Behandlung und für eine funktionierende Gesundheitsfürsorge insgesamt unabdingbar ist, grundlegend verändern. Darüber hinaus wäre das Einholen einer unbeeinflussten Zweitmeinung nahezu ausgeschlossen.
Die freie und unbeeinflusste Entscheidung der Patientinnen und Patienten über Einsatz und Verwendung der Karte muss gewährleistet werden (Grundsatz der Freiwilligkeit).
Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder haben bereits auf ihrer 47. Konferenz im März 1994 und auf ihrer 50. Konferenz im November 1995 zum freiwilligen Einsatz von Chipkarten im Gesundheitswesen Stellung genommen; deren Zulässigkeit wird dort von verschiedenen Bedingungen zur Sicherung des Persönlichkeitsrechts der Patientinnen und Patienten abhängig gemacht. Grundlegende Voraussetzung ist vor allem die freie Entscheidung der Betroffenen (auch als Versicherte). Sie müssen entscheiden können,
- ob ihre Daten auf einer Chipkarte gespeichert werden,
- welche ihrer Gesundheitsdaten auf die Karte aufgenommen werden,
- welche ihrer Daten auf der Karte wieder gelöscht werden,
- ob sie die Karte bei einem Arzt- oder Apothekenbesuch vorlegen und
- welche ihrer Daten sie im Einzelfall zugänglich machen (die Technik muss eine partielle Freigabe ermöglichen).
Die Verantwortung für die Wahrung der Arzneimittelsicherheit tragen grundsätzlich die Ärztinnen und Ärzte sowie die Apothekerinnen und Apotheker. Sie darf nicht auf die Betroffenen abgewälzt werden. Dies gilt auch, wenn sie von dem "Arzneimittelpass" keinen Gebrauch machen.
Der Chipkarteneinsatz darf nicht zur Entstehung neuer zentraler Datensammlungen über Patientinnen und Patienten führen.
Datenschutzrechtlich problematisch wäre es, den "Arzneimittelpass" auf der Krankenversichertenkarte gemäß § 291 SGB V zu implementieren. Eine solche Erweiterung wäre allenfalls vertretbar, wenn die "Funktion Krankenversichertenkarte" von der "Funktion Arzneimittelpass" informationstechnisch getrennt würde, so dass die Patientinnen oder Patienten bei einem Arzt- oder Apothekenbesuch nicht gezwungen werden, ihre gesamten Gesundheitsdaten ungewollt zu offenbaren. Ihre Entscheidungsfreiheit, wem gegenüber sie welche Gesundheitsdaten offenlegen, müsste also durch die technische Ausgestaltung der Karte gewährleistet sein.
Die Betroffenen müssen ferner das Recht und die Möglichkeit haben, ihre auf der Chipkarte gespeicherten Daten vollständig zu lesen.
Die Verwendung der Karte außerhalb des medizinischen Bereichs, z.B. durch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder Versicherungen, muss gesetzlich verboten und sanktioniert werden.