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VII. Tätigkeitsbericht des Landesbeauftragten für den Datenschutz Sachsen-Anhalt vom 01.04.2003 - 31.03.2005

18.2 Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Großen Lauschangriff

Am 3. März 2004 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über die Verfassungsmäßigkeit des sog. Großen Lauschangriffs entschieden (NJW 2004, 999). Die Klage war u.a. von Abgeordneten des Deutschen Bundestages eingereicht worden. Das BVerfG beteiligte den Landesbeauftragten am Verfahren; er hat eine Stellungnahme abgegeben.

Vom ersten Senat des BVerfG wurde die Regelung in Art. 13 Abs. 3 GG mehrheitlich für verfassungsgemäß erachtet.
Die Umsetzung des Gesetzgebers in entsprechende strafprozessuale Eingriffsbefugnisse sah das Gericht in weiten Teilen jedoch für verfassungswidrig an, denn durch diese werde gegen die Menschenwürde verstoßen, indem der Kernbereich privater Lebensgestaltung beeinträchtigt bzw. nicht respektiert werde. Dies betrifft insbesondere § 100c Strafprozessordnung (StPO), nach dessen Abs. 1 Nr. 3 das in einer Wohnung nicht öffentlich gesprochene Wort eines Beschuldigten abgehört und aufgezeichnet werden darf, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass er in einem Straftatenkatalog näher bezeichnete Straftaten begangen hat.
In seinem Urteil hat das BVerfG klargestellt, dass die Unverletzlichkeit der Wohnung einen engen Bezug zur Menschenwürde und zum Gebot der unbedingten Achtung einer Sphäre zur ausschließlich privaten Entfaltung hat. Auch wenn es um die Effektivität der staatlichen Strafrechtspflege und die Erforschung der Wahrheit gehe, dürfe dieser Kernbereich des Privaten von staatlicher Seite auch bei überwiegenden Interessen der Allgemeinheit nicht angetastet werden. Dabei macht das Gericht deutlich, dass nicht jeder Lauschangriff die Menschenwürde verletzt. So gehören Gespräche über begangene Straftaten nicht zum Kernbereich privater Lebensgestaltung.

Hinsichtlich der notwendigen Neuregelung der akustischen Wohnraumüberwachung hat das BVerfG u.a. darauf hingewiesen, dass

- die Überwachung von Gesprächen mit engsten Familienangehörigen oder Vertrauten sowie bestimmten Berufsgeheimnisträgern nur zulässig sei, wenn die Gesprächsinhalte keinen absoluten Schutz erfordern, was insbesondere bei Tatbeteiligung der Gesprächspartner oder bei besonderem Bezug zur jeweiligen Straftat denkbar sei. Allerdings bestehe eine Vermutung, dass Gespräche mit Familienangehörigen oder engsten Vertrauten in der Privatwohnung zum Kernbereich privater Lebensgestaltung gehören

- eine Regelung hinsichtlich einer konkreten Prognose zur Zeit der Anordnung und zu einer laufenden Überwachung der jeweiligen Abhörmaßnahme nötig sei

- es an einer ausreichend konkreten Bestimmung fehle, die, bei Rechtswidrigkeit der Erhebung, den Abbruch der Maßnahme, ein Verwertungsverbot sowie die Verpflichtung zur Datenlöschung regele

- nur Anlasstaten in Betracht kämen, welche bei abstrakter Betrachtung besonders schwerwiegend seien (Höchststrafe über 5 Jahre Freiheitsstrafe)

- gesetzliche Festlegungen zur Konkretheit von Inhalt und schriftlicher Begründung der Anordnungen von Wohnraumüberwachungen getroffen werden müssen

- § 101 Abs. 1 Satz 1 StPO, welcher Ausnahmen von der Benachrichtigungspflicht gegenüber von einem Lauschangriff Betroffenen zulässt, zu weit gehe, soweit die Benachrichtigung davon abhängig gemacht werde, dass sie ohne Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder der weiteren Verwendung eines eingesetzten, nicht offen ermittelnden Beamten nicht erfolgen könne

- Benachrichtigungen Drittbetroffener (z.B. Gäste, Wohnungsinhaber, Mitbewohner) grundsätzlich notwendig seien, es sei denn, der Grundrechtseingriff werde dadurch vertieft. Außerdem genüge es nicht, die Zurückstellungen der Information Drittbetroffener nur einmalig zu kontrollieren, eine Überprüfung müsse regelmäßig erfolgen

- eine Kennzeichnungspflicht für die erlangten Daten erforderlich sei

- die Verwendung der erhobenen personenbezogenen Daten in anderen Verfahren nur zur Aufklärung gleichgewichtiger Katalogtaten oder Abwehr konkreter Gefahren für hochrangige Rechtsgüter erfolgen dürfe

- Daten, soweit diese noch für gerichtliche Kontrollen verfügbar sein müssen, zu sperren seien.

Zwei weitere Aspekte ergeben sich aus dieser Entscheidung des BVerfG.
Zum einen sind die Anforderungen an die Durchführung der Wohnraumüberwachungsmaßnahmen ab dem Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG zu beachten. Dies bedeutet, dass z.B. aus Wohnraumüberwachungsmaßnahmen gewonnene Ermittlungsansätze hinsichtlich solcher Taten, welche mit einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren oder weniger bedroht sind, nicht mehr verwertet werden dürfen.
Zum anderen sind die wesentlichen Festlegungen des Urteils auch für andere, in ihrer Eingriffstiefe vergleichbar gravierende strafrechtliche Ermittlungsmaßnahmen von Bedeutung. Der Gesetzgeber wird sich insbesondere mit den damit zusammenhängenden Fragen in Bezug auf die Telekommunikationsüberwachung wie auch bezüglich der Postbeschlagnahme auseinandersetzen müssen.

Nachdem das BVerfG dem Gesetzgeber zur Herstellung eines verfassungsgemäßen Rechtszustandes eine Frist bis 30. Juni 2005 eingeräumt hatte, kam es zu einem Gesetzentwurf zur Umsetzung des Urteils des BVerfG aus dem mit der Vorbereitung befassten Bundesministerium, welcher eher eine Verschärfung der Eingriffsmöglichkeiten in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger vorsah, als eine Anpassung an die Forderungen des BVerfG.
Wegen der aufkommenden heftigen Kritik wurde der Referentenentwurf nachgebessert. Dieser nun in der Diskussion befindliche Minimalentwurf, der ausschließlich die möglichst getreuliche Umsetzung des Urteils des BVerfG zum Inhalt hat, bedarf weiterer Verbesserungen. So wurde bisher keine Begriffsbestimmung zum unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung vorgenommen, ebenso fehlt die Festlegung des Kreises persönlich vertrauter Personen.

Unabhängig hiervon haben die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder in einer weiteren Entschließung auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass alle verdeckten Eingriffsmaßnahmen in die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern an den Maßstäben der verfassungsgerichtlichen Entscheidung vom 3. März 2004 gemessen werden müssen. Alle einschlägigen Bestimmungen sind daher einer Überprüfung zu unterziehen (Anlage 21).

Hierüber hat der Landesbeauftragte auch die zuständigen Landesminister informiert. Er erwartet, dass in Folge des Verfassungsgerichtsurteils die präventiven Regelungen im Bereich des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (SOG LSA) und des Verfassungsschutzgesetzes, u.a. hinsichtlich der Unterrichtung der Betroffenen nach Abschluss der jeweiligen verdeckten Maßnahmen, überprüft werden.