Entschließung der 82. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder am 28./29. September 2011 in München
Antiterrorgesetze zehn Jahre nach 9/11 - Überwachung ohne Überblick
In der Folge der Anschläge vom 11. September 2001 wurden der Polizei, den Strafverfolgungsbehörden und den Nachrichtendiensten zahlreiche neue Befugnisse eingeräumt, die sich durch eine große Streubreite auszeichnen und in die Grundrechte zahlreicher Bürgerinnen und Bürger eingreifen. Zunehmend werden Menschen erfasst, die nicht im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben oder von denen keine konkrete Gefahr ausgeht. Unbescholtene geraten so verstärkt in das Visier der Behörden und müssen zum Teil weitergehende Maßnahmen erdulden. Wer sich im Umfeld von Verdächtigen bewegt, kann bereits erfasst sein, ohne von einem Terrorhintergrund oder Verdacht zu wissen oder in entsprechende Aktivitäten einbezogen zu sein.
Zunehmend werden Daten, z.B. über Flugpassagiere und Finanztransaktionen, in das Ausland übermittelt, ohne dass hinreichend geklärt ist, was mit diesen Daten anschließend geschieht (vgl. dazu Entschließung der 67. Konferenz vom 25./26. März 2004 "Übermittlung von Flugpassagierdaten an die US-Behörden"; Entschließung der 78. Konferenz vom 8./9. Oktober 2009 "Kein Ausverkauf von europäischen Finanzdaten an die USA!").
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten vom 2. März 2010 (1 BvR 256/08) klargestellt: Es gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland, dass die Freiheitswahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf. Die Verfassung fordert vielmehr ein austariertes System, bei dem jeder Eingriff in die Freiheitsrechte einer strikten Prüfung seiner Verhältnismäßigkeit standhält.
Von einem austarierten System der Eingriffsbefugnisse kann schon deshalb keine Rede sein, weil die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Eingriffsinstrumentarien nie systematisch untersucht worden sind. Bundesregierung und Gesetzgeber haben bislang keine empirisch fundierten Aussagen vorgelegt, zu welchem Überwachungs-Gesamtergebnis die verschiedenen Befugnisse in ihrem Zusammenwirken führen. Die bislang nur in einem Eckpunktepapier angekündigte Regierungskommission zur Überprüfung der Sicherheitsgesetze ersetzt die erforderliche unabhängige wissenschaftliche Evaluation nicht.
Viele zunächst unter Zeitdruck erlassene Antiterrorgesetze waren befristet worden, um sie durch eine unabhängige Evaluation auf den Prüfstand stellen zu können. Eine derartige umfassende, unabhängige Evaluation hat jedoch nicht stattgefunden. Dies hat die Bundesregierung nicht davon abgehalten, gleichwohl einen Entwurf für die Verlängerung und Erweiterung eines der Antiterrorpakete in den Gesetzgebungsprozess einzubringen (BT-Drs. 17/6925).
Die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder fordert daher erneut, die Auswirkungen der bestehenden Sicherheitsgesetze - gerade in ihrem Zusammenwirken - durch eine unabhängige wissenschaftliche Evaluierung (so bereits die Entschließung der 79. Konferenz vom 17./18. März 2010 "Für eine umfassende wissenschaftliche Evaluierung im Sicherheitsbereich") zu untersuchen. Die Wirksamkeit der Regelungen, ihre Erforderlichkeit für den gesetzgeberischen Zweck und ihre Angemessenheit, insbesondere im Hinblick auf die Bedrohungslage sowie die Auswirkungen für die Betroffenen müssen vor einer weiteren Befristung endlich kritisch überprüft werden.