Entschließung der 93. Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder am 29. und 30. März 2017 in Göttingen
Einsatz von Videokameras zur biometrischen Gesichtserkennung birgt erhebliche Risiken
In Pilotprojekten wird derzeit der Einsatz von Videoüberwachungssystemen erprobt, die erweiterte Möglichkeiten der Verhaltensauswertung und der Identifizierung von Beobachteten bieten. Neben der Mustererkennung steht besonders die biometrische Gesichtserkennung im Fokus dieser Projekte. Dies verschärft die ohnehin schon vorhandene Problematik derartiger neuer Überwachungsverfahren, mit denen „abweichendes Verhalten“ erkannt werden soll.1)
Der Einsatz von Videokameras mit biometrischer Gesichtserkennung kann die Freiheit, sich in der Öffentlichkeit anonym zu bewegen, gänzlich zerstören. Es ist kaum möglich, sich solcher Überwachung zu entziehen oder diese gar zu kontrollieren.
Anders als bei konventioneller Videoüberwachung könnten Passanten mit dieser Technik nicht nur beobachtet und anhand bestimmter Muster herausgefiltert werden, sondern während der Überwachung anhand von Referenzbildern (Templates) automatisiert identifiziert werden. Damit wird eine dauerhafte Kontrolle darüber möglich, wo sich konkrete Personen wann aufhalten oder bewegen und mit wem sie hierbei Kontakt haben. Ermöglicht wird so die Erstellung von umfassenden Bewegungsprofilen und die Verknüpfung mit anderen über die jeweilige Person verfügbaren Daten.
Neben den genannten massiven gesellschaftspolitischen Problemen bestehen auch erhebliche rechtliche und technische Bedenken gegen den Einsatz solcher Überwachungstechniken. Biometrische Identifizierung arbeitet mit Wahrscheinlichkeitsaussagen; bei dem Abgleich zwischen ermitteltem biometrischen Merkmal und gespeichertem Template sind falsche Identifizierungen keine Seltenheit. Beim Einsatz dieser Technik durch Strafverfolgungsbehörden kann eine falsche Zuordnung dazu führen, dass Bürgerinnen und Bürger unverschuldet zum Gegenstand von Ermittlungen und konkreten polizeilichen Maßnahmen werden. Dieselbe Gefahr besteht, falls sie sich zufällig im öffentlichen Raum in der Nähe von gesuchten Straftätern oder Störern aufhalten.
Es gibt keine Rechtsgrundlage für die Behörden von Bund und Ländern für den Einsatz dieser Technik zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung. Die bestehenden Normen zum Einsatz von Videoüberwachungstechnik erlauben nur den Einsatz technischer Mittel für reine Bildaufnahmen oder -aufzeichnungen, nicht hingegen für darüber hinausgehende Datenverarbeitungsvorgänge. Aufgrund des deutlich intensiveren Grundrechtseingriffs, der durch Videotechnik mit erweiterter Auswertung einhergeht, können die bestehenden gesetzlichen Regelungen nicht analog als Rechtsgrundlage herangezogen werden, da sie für einen solchen Einsatz verfassungsrechtlich zu unbestimmt sind.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Maßnahmen mit großer Streubreite ein erheblicher Grundrechtseingriff. So verlangt das Bundesverfassungsgericht bereits für das automatisierte Erfassen von KFZ-Kennzeichen zwecks Abgleichs mit dem Fahndungsbestand eine normenklare und verhältnismäßige Rechtsgrundlage, die einen anlasslosen und flächendeckenden Einsatz ausschließt. Da bereits die allgemeine Regelung zur Videoüberwachung nicht zur Erfassung von KFZ-Kennzeichen ermächtigt, muss dies erst recht für die viel stärker in die Grundrechte Betroffener eingreifende Videoüberwachung zwecks Abgleichs biometrischer Gesichtsmerkmale einzelner Personen gelten. Ein Einsatz der Videoüberwachung mit Gesichtserkennung darf daher auf derzeitiger Grundlage auch im Rahmen eines Pilotbetriebs nicht erfolgen.
Der europäische Gesetzgeber hat die enormen Risiken dieser Technik für die Privatsphäre erkannt und die Verarbeitung biometrischer Daten zur Identifizierung sowohl in der ab Mai 2018 wirksamen Datenschutz-Grundverordnung als auch in der bis Mai 2018 umzusetzenden Datenschutz-Richtlinie im Bereich Justiz und Inneres nur unter entsprechend engen Voraussetzungen für zulässig erachtet. Wird über den Einsatz dieser Technik nachgedacht, muss der Wesensgehalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gewahrt bleiben und es müssen angemessene und spezifische Regelungen zum Schutz der Grundrechte und -freiheiten der Betroffenen vorgesehen werden. Hierzu gehören u. a. eine normenklare Regelung für die Verwendung von Templates, z. B. von Personen im Fahndungsbestand, für den Anlass zum Abgleich des Templates mit den aufgenommenen Gesichtern sowie zum Verfahren zur Zulassung von technischen Systemen für den Einsatz.
Etwaige gesetzliche Regelungen müssten die vorgenannten verfassungs- und europarechtlichen Bedingungen beinhalten und den mit dieser Technik verbundenen erheblichen Risiken für die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger angemessen Rechnung tragen!
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1) Siehe auch Entschließung der 83. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder
„Öffentlich geförderte Forschungsprojekte zur Entdeckung abweichenden Verhaltens im öffentlichen Raum - nicht ohne Datenschutz".